Wenn man nicht weiß, wo man herkommt, kann man auch nur schwerlich wissen, wo man hin will – zur Geschichte der Schülervertretung in Deutschland
Die Anfänge
Lange Zeit gab es Schulbildung hauptsächlich von kirchlicher und privater Seite aus. Ein staatlich organisiertes, für alle Bevölkerungsschichten zugängliches Bildungssystem, wie wir es heute kennen, begann sich erst im 19. Jahrhundert in Preußen zu bilden. Hier entstand auch unter dem Einfluss von Alexander von Humboldt das Ideal der humanistischen Bildung, was noch bis in unsere heutige Zeit nachwirkt. In den damaligen Lehranstalten gab es jedoch keinerlei Mitbestimmung durch die Schülerinnen und Schüler. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, bedenkt man, wie hierarchisch und obrigkeitshörig die damalige Gesellschaft und die Menschen in ihr ausgeprägt waren. Daher beschränkte sich die Teilhabe der Schülerschaft lediglich auf Helferdienste zur Abwicklung des Schulalltags.
1900 – 1932 / 33
Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes kam um die Jahrhundertwende in die Sache. Von den Internaten Englands (Pädagoge Leitz) oder dem amerikanischen Schulstaat (Pädagogen Kerschensteiner und Foerster) sowie dem Freiheitsgedanken der Reformbewegung inspiriert, gründeten sich überall im Land neuartige Schulen. Montessori- Schulen, Schulen der Landheimbewegung, wie z. B. die Odenwaldschule in Südhessen, und andere zum Teil heute noch existierende Einrichtungen. Innerhalb dieser neuen Schulen fanden sich erstmals Ansätze von Demokratie und einer ernsthaften Beteiligung der Jugendlichen. Unter der Bezeichnung „Selbstregulierung“ oder „selfgovernment“ entstanden in einigen Privatschulen erste, „richtige“ Schülervertretungen. Die Ausweitung von Mitbestimmungsrechten auch auf die staatlichen Schulen ließ jedoch noch auf sich warten. Erste, zaghafte Ansätze gab es, als auch Deutschland ein (formal) demokratischer Staat wurde. Ein Beispiel hierfür ist ein Erlass des preußischen Kultusministers von 1919, der von dem Reformpädagogen Gustav Wyneken erarbeitet wurde und Schülerinnen und Schülern erste, spärliche Rechte zugestand. In der Realität wurden diese aber von den meisten Lehrerinnen, Lehrern und Schulleitungen missachtet. Bemerkenswert ist, dass sich innerhalb der Schule vermehrt Ableger der Parteien und politischen Gruppen bildeten, die sich in der Weimarer Republik unter anderem heftige Straßenschlachten lieferten und die politische Landschaft ins Extreme polarisierten. So gab es vielerorts sozialistische Schülergruppen, aber auch gedankliche Vorläuferorganisationen der Hitlerjugend, die versuchten, die politische Auseinandersetzung in die Schulen hineinzutragen. Ein jähes Ende nahmen diese Versuche erster Schülermitbestimmung mit dem Ende der Weimarer Republik und dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur. Die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten verboten sämtliche eigenständigen Gruppen und etablierten die Hitlerjugend als einzige Möglichkeit der „politischen“ Betätigung für Schülerinnen und Schüler. Absolute Obrigkeitshörigkeit, Befehlsgehorsam, Unterordnung des Individuums und grausame Verfolgung Andersdenkender prägte fortan die Schullandschaft.
Nach 1945
Mit der sich abzeichnenden Trennung von Ostund Westdeutschland entwickelte sich auch die Schülerbeteiligung nach Kriegsende auseinander. Im Folgenden wird daher versucht, die Entwicklung getrennt voneinander zu betrachten.
... in der DDR
Die Entwicklung der Schülerinnen- und Schülervertretung in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) bzw. später der DDR lässt sich in zwei Phasen unterteilen. In der ersten Phase bis 1949 existierten eigenständige Schülerselbstverwaltungen (SSV), die in der pädagogischen Debatte und im schulpolitischen Handeln der damaligen Zeit eine wichtige Rolle spielten. Ihr relativ großes Aufgabenfeld ging deutlich über die Grenzen heutiger SV-Arbeit hinaus. Eine Debatte um ein so genanntes politisches Mandat, also ob SVen sich zu allen allgemeinpolitischen Themen äußern dürfen, gab es damals nicht, wurde als selbstverständlich angesehen. Die Praxis der SSV hielt sich auch größten Teils in dem von der deutschen Schuladministration (DVV) vorgegebenen Rahmen, aber man ging an einigen Stellen deutlich darüber hinaus. Nicht selten stellten die Schülerinnen und Schüler eine eigene Öffentlichkeit her z. B. durch äußerst kritische Schülerzeitungen und andere Formen der Berichterstattung. Es kam zu schulübergreifenden Zusammenschlüssen der Interessenvertretungen, die die behördliche Anerkennung fanden. In den Oberschulen wurde diese Interessenvertretungsarbeit vielfach als eine Vorform gewerkschaftlicher Interessenvertretung angesehen. Zwar existieren parallel zu diesen Schülervertretungen FDJ-Gruppen an den Schulen, doch gab es in dieser Zeit noch keine Beschlüsse, die Schülervertretungen durch die FDJ bzw. deren Kinderorganisation, die Pioniere, zu ersetzen. Dies geschah erst in der zweiten Phase ab 1949. Alle ersten Versuche der DVV, die FDJ-Schulgruppen staatlich sanktioniert gegenüber den SSVen zu stärken und ihr unterzuordnen, konnten sich nicht durchsetzen. Die FDJ wollte jedoch nicht länger warten und drängte deshalb auf höchster Ebe zu einem Grundsatzbeschluss – zur Auflösung der SSV-Tätigkeiten. Am 09.12.1948 hatte sie ihr Ziel erreicht, denn die 17. Ministerkonferenz stellte die Weichen in Richtung Auflösung der SSV. Nach und nach wurden nun die Schülerinnen- und Schülervertretungen ersetzt, selbst dort wo es keine FDJ-Schülergruppen gab - hier nahm die zuständige FDJ-Kreisleitung durch ihre Funktionäre die entsprechenden Aufgaben wahr. Als Vertreterin der Gesamtinteressen der Jugend stand der FDJ nun das Recht der Vertretung der Schülerinnen und Schüler in der Öffentlichkeit zu. Eine Interessenvertretungsarbeit der Schülerinnen und Schüler im eigentlichen Sinne nahm der Jugendverband jedoch nicht wahr. Dies hätte auch seinem Selbstverständnis widersprochen, die Einheit zwischen Schule, Jugendverband und Elternhaus mitzugestalten. In diesem Rollenbild war für emanzipatorische Interessenvertretung so gut wie kein Platz – vielmehr wurden auch durch den Jugendverband repressive und autoritäre Strukturen gefestigt und legitimiert. Dennoch gab es einige Ausnahmen, Nischen, in denen in gewisser Weise Selbstbestimmung und eigene Ideen ausprobiert werden konnten. Orte dafür waren die an Schulen existierenden Schulklubs. Teilweise wurde auch unter dem Deckmantel der FDJ eine Arbeit durchgeführt, die in mancher Hinsicht an die Tätigkeit der SSV anknüpfte. Zur Zeit der Wende bildeten sich dank des staatlichen Machtvakuums überall selbst organisierte Schülerinnen- und Schülergruppen, die sich auch (über)regional zusammenschlossen. In der Bundesrepublik angekommen, wurden größtenteils die Schulgesetze samt entsprechenden SV-Modellen aus den westlichen Bundesländern importiert. Auf diesem Weg wurden jedoch auch wichtige Mitbestimmungsrechte weggeschnitten und die Selbstständigkeit der SVen zurechtgestutzt, die sich die Schülergruppen gerade erst erarbeitet hatten.
… in der BRD
Im Rahmen der „Entnazifizierung“ und „reeducation“, die die Alliierten in allen Lebensbereichen vorsahen, sollte auch an den Schulen ein Rahmen geschaffen werden, der es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, im vorgegeben Rahmen Erfahrungen mit der neuen demokratischen Ordnung zu sammeln. Der Eifer und die anfängliche Begeisterung dieser ersten flächendeckend eingerichteten Schülerinnen- und Schülermitverwaltungen führten zu einer gewissen Blütezeit, in der es bereits Anfang der 50er Jahre zu bundesweiten Treffen der Schülerinnen- und Schülermitverwaltungen kam. Ziele wie ernsthafte demokratische Mitbestimmung oder eine politische Schülerinnen- und Schülervertretung im Sinne einer eigenständigen Vertretung der Interessen der Schülerinnen und Schüler wurden jedoch schnell enttäuscht. Vielmehr war die Schülerinnen- und Schülermitverwaltung oder auch Schülermitverantwortung (kurz: SMV, spaßeshalber auch „Schülerinnen- und Schülermilchverwaltung“ genannt) auf die Schule begrenzt und verfolgte eher pädagogische Ziele und Selbstregulierung im Sinne der herrschenden Politik. Die gewollten Schwerpunkte der Arbeit waren organisatorische Mithilfe im Schulalltag, Schulhofgestaltung usw. aber auch Selbsterziehung zu braven, tugendhaften Bürgerinnen und Bürgern. Die Schule wurde als Ort ohne Interessengegensätze dargestellt; die hierarchische Machtstruktur und die zu befolgende Moralvorstellung waren unangreifbar. Im Zuge der Entwicklung der außerparlamentarischen Opposition (APO, „68“) vornehmlich unter Studierenden Mitte, Ende der 60er Jahre, aber auch schon wesentlich früher (z. B. im Rahmen der Proteste gegen die Wiederbewaffnung), kam in weiten Kreisen der Schülerschaft die Idee von mehr Demokratie und Mitbestimmung, einer weniger hierarchisch-autoritären Gesellschaft auf. Eine starke Schülerinnen- und Schülerbewegung mit breiten Protesten und vereinzelt auch Schulbesetzungen formierte sich. Mit den vorhandenen SMV-Strukturen unzufrieden, gründeten sich vielerorts Schülerräte, die für eine Schülervertretung im Sinne einer politischen Interessenvertretung und die Demokratisierung der Schule kämpften. Um diesen selbstständigen Wildwuchs zu zähmen, reagierte schließlich der Gesetzgeber: In Hessen wurden 1965 erste SMV-Rechte und -Wahlvorschriften, aber vor allem die Erlaubnis zum überschulischen Zusammenschluss zu Kreis-/Stadtschülerräten und zum Landesschülerrat festgeschrieben. Damit war man in Hessen bundesweit bahnbrechend und gab der Schülerinnen- und Schülermitverwaltung neue Impulse. Der Schulmitwirkungserlass von 1968/69 der Kultusministerkonferenz institutionalisierte erstmals eine Schülervertretung (SV), die zum Beispiel ein Teilnahmerecht an Lehrerkonferenzen besaß. Sogar Gedanken um ein Gesetz, das Schülervertretungen das allgemeinpolitische Mandat (sich zu allen politischen Bereichen äußern zu dürfen) sowie sonstige weitreichende Mitwirkungsrechte zusprechen sollte, standen im Raum. Am 13. 12. 1977 wurde jedoch ein Schulmitwirkungsgesetz erlassen, das weit hinter diesen Erwartungen zurückblieb, allerdings immer noch eine gewisse Grundlage für SV-Arbeit bildete. Die Schülerinnen- und Schülerbewegung flachte ab, ohne dass sich in den Schulen an der internen Machtstruktur zugunsten von Lehrerschaft und Schulleitungen viel geändert hätte. Neuer Schwung kam erst durch ein vornehmlich durch die SPD vorangetriebenes Projekt: Die Schulkonferenz. Erstmalig saßen alle an Schule beteiligten Parteien – Schülerschaft, Lehrerschaft, Eltern und Schulleitung – an einem Tisch und entschieden über die wichtigsten Schulangelegenheiten unter Einbeziehung aller. Obwohl die Schülerinnen und Schüler mit einem Viertel der Stimmen weiterhin nicht annähernd repräsentabel vertreten sind, bedeutete die Einführung der Schulkonferenz einen großen Sprung nach vorne für die Beteiligungsmöglichkeiten der Schülerschaft. Nach und nach wurden viele wichtige Entscheidungskompetenzen jedoch wieder zugunsten der Gesamtkonferenz, also zugunsten der Lehrerinnen und Lehrer, verschoben. Die Stellung der Schulkonferenz an der Spitze der innerschulischen Entscheidungswege wurde damit empfindlich ausgehöhlt. In den letzten Jahren greift immer stärker eine Entpolitisierung der SVen um sich, statt politischer Interessenvertretung stehen Serviceleistungen und Mithilfe bei der Verwaltung des Schulalltags hoch im Kurs. Einige sehen diese Tendenz unmittelbar mit dem Niedergang der politischen Jugendverbänden, was Mitgliederzahlen und politische Präsenz angeht, verbunden. Bis vor einigen Jahren bestand ein enger personeller und inhaltlicher Austausch zwischen Schülervertretungen und Jugendverbänden, was sicherlich auch zu Problemen geführt hat. Heute spielen Jugendverbände in den SVen nur noch eine untergeordnete Rolle; oftmals kommen die Aktiven heute in den Schülervertretungen das erste Mal mit politischen Arbeitsmethoden in Berührung, während sie früher bereits Erfahrungen und Qualifikationen aus den Jugendverbänden mitbrachten. Das stellt die Schülervertretungen heute vor ganz neue Bedingungen und Aufgaben. Momentan befindet sich die Schülervertretungslandschaft in Deutschland in dieser Umbruchsphase, sucht neue Wege und ein neues Selbstverständnis. Entscheidend wird sein, ob sich Schülervertretung als politischer Akteur und politische Stimme der Schülerinnen und Schüler für mehr Mitbestimmung und Demokratie an Schule wieder finden wird. Oder ob Schülervertretung vornehmlich Dienstleisterin für Schülerinnen und Schüler wird, die versucht, das bestehende Bildungssystem möglichst angenehm zu gestalten. Das Eine schließt das Andere nicht unbedingt aus, doch muss das grundsätzliche Ziel klar sein. Abschließend ein Kommentar von Pascal Beucker, ehemals in der LandesschülerInnenvertretung Rheinland-Pfalz aktiv: „[…] Auch heute noch sind Schülerinnen und Schüler eine verhältnismäßig rechtlose Gruppe. Ihre gesetzlichen Rechte beschränken sich auf allzu willkürliche Maßnahmen von Lehrer/innen und Schulleitung. Gleichzeitig gibt es jedoch in den Schulgesetzen einen ausführlichen Katalog von Ordnungsmaßnahmen gegen renitente Schülerinnen und Schüler. Reale Mitbestimmungsmöglichkeiten, z. B. bei der Gestaltung und den Inhalten des Unterrichts, werden ihnen nicht zugestanden. Von einer demokratischen Organisation von Schule kann nicht gesprochen werden. Die Beteiligung von Schülervertreterinnen und Schülervertretern an schulischen Entscheidungsgremien hat nicht mehr als einen Alibicharakter, da Schülerinnen und Schüler zwar die Mehrheit der Schulangehörigen, jedoch ihre gewählten Vertreter/innen in diesen Gremien nur eine Minderheit stellen. Forderungen von Schüler/ innenvertretungen nach paritätischer Besetzung von Schulkonferenzen, nach einem Vetorecht in Schul- und Klassenkonferenzen, damit keine Beschlüsse der Lehrer/innen bzw. Eltern-/Lehrerinnen- und Lehrermehrheit in diesen Gremien gegen den Willen der Schülerinnen und Schüler gefasst werden können, oder nach Bildung von Schulleitungskollektiven, an denen auch Schülerinnen und Schüler beteiligt sind, sind heute noch genauso weit von ihrer Realisierung entfernt, wie zu der Zeit, in der ich in der Schüler/innenvertretung aktiv war (Mitte der 80er; Anm. d. R.). Und deshalb erscheint es mir heute immer noch als richtig und wichtig, wenn Schülerinnen und Schüler über ihr Instrumentarium von Eingriffsmöglichkeiten in schulische Prozesse diskutieren, wenn sie Veränderungsperspektiven versuchen zu entwickeln und analysieren, welchen Beschränktheiten institutionalisierte Schülerinnen- und Schülervertretungsarbeit unterworfen ist, aber auch welche Chancen in ihr liegen.“
(Auszug aus „SV-Arbeit macht nur Sinn, wenn sie als Instrument zur Entwicklung eines kritischen Bewußtseins verstanden wird“ von Pascal Beucker)